🧩 Was ist ein Trauma-Fachberater?
- Thorsten Wirth

- 13. Juli
- 3 Min. Lesezeit

Ein Trauma-Fachberater (oder Trauma-Berater/in) ist ein speziell ausgebildeter Experte, der Menschen nach belastenden Erfahrungen begleitet und unterstützt. Anders als ein psychotherapeutisches Angebot geht es hierbei nicht um Diagnosestellung oder tiefenpsychologische Behandlung, sondern um stabilisierende, traumasensible Beratung im Alltag.
🔍 Abgrenzung zur Psychotherapie
Merkmal | Trauma-Fachberatung | Psychotherapie |
Ziel | Stabilisierung, Orientierung | Heilung, Bearbeitung psychischer Störungen |
Methodik | Gespräch, Ressourcenarbeit | Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie etc. |
Voraussetzung | Keine Diagnose notwendig | Psychische Erkrankung als Indikation |
Zugänglichkeit | Keine Krankenkassenbindung | Über Kassen oder privat |

🧠 Wirkprinzipien: Wie Trauma-Fachberatung hilft
Trauma-Fachberatung basiert auf neurobiologischen und psychologischen Erkenntnissen über das menschliche Stresssystem:
Polyvagal-Theorie (Stephen Porges): Verständnis für Kampf-, Flucht- und Erstarrungsmechanismen
Trauma-Integration nach Luise Reddemann: Arbeit mit dem "inneren sicheren Ort"
Ressourcenorientierung: Aktivierung von Kraftquellen und Bewältigungsstrategien
Psychoedukation: Aufklärung über Traumafolgen, z. B. Flashbacks oder Dissoziation
💡 Vorteile für Betroffene
Schnelle Hilfe in belastenden Lebenssituationen
Entlastende Gespräche ohne Stigmatisierung
Aktivierung eigener Ressourcen statt passiver Behandlung
Methoden, die auch außerhalb der Beratung genutzt werden können
Orientierung bei Fragen wie: „Brauche ich eine Therapie?“ oder „Wie kann ich stabil bleiben?“
📚 Fallbeispiele aus der Praxis
Beispiel 1: Sabine, 42 Jahre – belastet durch plötzlichen Unfalltod ihres Partners
Symptome: Schlaflosigkeit, Panikattacken, sozialer Rückzug
Interventionen:
Psychoedukation über Trauer und Trauma
Atemtechniken zur Selbstberuhigung
Erstellung eines „Stabilisierungsplans“ für Alltag und Beruf
Beispiel 2: Jamal, 16 Jahre – Fluchterfahrungen aus Syrien, Schulprobleme
Symptome: Dissoziation, Konzentrationsschwierigkeiten, aggressive Ausbrüche
Interventionen:
Imaginationsübungen („innerer sicherer Ort“)
Zeichnen als Ausdrucksmittel
Elternberatung zur traumasensiblen Kommunikation

🛠️ Mögliche Interventionen in der Trauma-Fachberatung
Methode | Ziel |
Atem- und Körperübungen | Regulation des Nervensystems |
Imaginative Techniken | Sicherheit und Selbstwirksamkeit |
Tagebuch- und Ausdrucksarbeit | Strukturierung und Entlastung |
Arbeit mit inneren Anteilen | Integration verschiedener Ich-Zustände |
Gesprächsführung nach Rogers | Empathie und Wertschätzung |

🧭 Für wen eignet sich Trauma-Fachberatung?
Menschen mit akuten Belastungssituationen (z. B. Trennung, Verlust, Stress)
Menschen mit Traumaerfahrung, die keine Therapie wollen/können
Angehörige von Trauma-Betroffenen
Mitarbeitende in sozialen und pädagogischen Berufen
🧑🎓 Qualifikation und Ethik
Trauma-Fachberater:innen absolvieren umfassende Fortbildungen (z. B. bei ZPTN, DeGPT-nahen Instituten). Sie arbeiten nach ethischen Grundsätzen:
Freiwilligkeit und Selbstbestimmung
Grenzen respektieren (keine Trauma-Rekonstruktion)
Schweigepflicht und Datenschutz
📎 Fazit: Trauma-Fachberatung – eine wertvolle Ergänzung
Trauma-Fachberatung ist kein Ersatz für Psychotherapie, aber eine kraftvolle, niedrigschwellige Möglichkeit zur Stabilisierung, Selbstermächtigung und Orientierung. Sie bietet Halt – oft genau dann, wenn klassisch-therapeutische Angebote noch nicht greifen.
Anhang:
näheres zur Polyvagal-Theorie
🧠 Grundprinzipien der Polyvagal-Theorie
Die Theorie basiert auf der Idee, dass unser Vagusnerv – der längste Hirnnerv – drei evolutionär unterschiedliche Reaktionssysteme steuert:
1. Ventraler Vaguskomplex (soziales Engagement)
Aktiv bei Sicherheit und Verbundenheit
Ermöglicht soziale Kommunikation, Mimik, Stimme, Blickkontakt
Fördert Ruhe, Verdauung, Empathie und Selbstregulation
2. Sympathikus (Kampf oder Flucht)
Aktiv bei Gefahr oder Bedrohung
Mobilisiert Energie für Aktion: Herzrasen, Muskelspannung, Wachsamkeit
3. Dorsaler Vaguskomplex (Erstarrung oder Shutdown)
Aktiv bei extremer Bedrohung oder Überforderung
Führt zu Rückzug, Dissoziation, Taubheit, Kollaps

🔍 Neurozeption – das unbewusste Sicherheitsradar
Ein zentrales Konzept der Theorie ist die Neurozeption: Unser Nervensystem scannt ständig (unbewusst!) die Umgebung auf Sicherheit oder Gefahr. Je nach Einschätzung wird einer der drei Zustände aktiviert – ohne dass wir es bewusst steuern.
Beispiel:
Ein freundliches Gesicht → ventraler Vagus → Entspannung
Ein lauter Streit → Sympathikus → Alarmbereitschaft
Eine traumatische Erinnerung → dorsaler Vagus → Rückzug
🧬 Evolutionäre Hierarchie
Die drei Systeme folgen einer evolutionären Reihenfolge:
Ventraler Vagus – jüngstes System, typisch für Säugetiere, ermöglicht Bindung
Sympathikus – älter, für Flucht/Kampf
Dorsaler Vagus – ältestes System, für Erstarrung bei Lebensgefahr
Wenn das soziale System versagt, greift der Körper auf die älteren, primitiveren Reaktionen zurück.
🧘♀️ Anwendung in der Praxis
Die Polyvagal-Theorie wird in vielen Bereichen genutzt:
Traumatherapie: Verständnis für Dissoziation und Selbstregulation
Trauma-Fachberatung: Stabilisierung durch Aktivierung des ventralen Vagus
Pädagogik & Coaching: Förderung von Sicherheit und Beziehung
Selbsthilfe: Atemübungen, Musik, Rhythmus, Berührung zur Regulation

📎 Fazit
Die Polyvagal-Theorie bietet ein tiefes Verständnis dafür, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren, wie wir reagieren – und wie wir durch gezielte Interventionen wieder in einen Zustand von Sicherheit und Verbundenheit gelangen können. Sie ist besonders hilfreich für Menschen mit Traumaerfahrung, hoher Sensibilität oder chronischem Stress.



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