Die Schwelle der Stille
- Thorsten Wirth
- vor 7 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Eine philosophische Erzählung über Coaching, Hypnose
und den wahren Erfolg

1. Das Echo der Leistung
Er hieß David, 47 Jahre alt, CEO eines aufstrebenden Technologieunternehmens. Seine Welt bestand aus Metriken, Erwartungen, Präsentationen und Entscheidungen. Seine Wochen waren durchgetaktet, sein Kalender ein Mosaik aus Farben, Terminen, Deadlines. Erfolg war für ihn keine Frage des Zufalls, sondern des Fleißes – und der Kontrolle. Sein Leben war die Fortsetzung eines stillen Gelübdes, das er sich als Jugendlicher gegeben hatte: „Ich werde es allen beweisen.“
Doch immer öfter war da etwas, das nicht zählte – nicht in Zahlen, nicht in KPIs. Es war ein Gefühl, das sich nachts meldete, wenn er eigentlich schlafen sollte. Eine Art inneres Flimmern, schwer zu benennen, aber hartnäckig in seiner Präsenz. Kein Burn-out. Kein akuter Schmerz. Eher ein leises, persistierendes Echo, das wie aus einer anderen Dimension kam. Er begann zu ahnen: Die Stimme, die er all die Jahre so erfolgreich ignoriert hatte, war nicht verschwunden. Sie wartete.
2. Die Einladung
Ein befreundeter Investor erwähnte beiläufig ein Coaching, das „nicht wie die anderen“ sei. Integrativ, tiefenpsychologisch, mit hypnosystemischen Elementen. „Es geht nicht um Performance-Coaching“, sagte er. „Es geht um Präsenz.“ David lachte zunächst. Präsenz? Er war doch präsent – auf Bühnen, in Meetings, im Markt.
Trotzdem vereinbarte er einen Termin.
Der Coachingraum war schlicht. Keine motivationalen Zitate an der Wand, keine Flipcharts, kein Bildschirm. Nur ein Holzstuhl, ein Tisch, eine kleine Skulptur, die zwei Figuren in einer verschlungenen Umarmung zeigte. Der Coach – eine Frau um die sechzig mit klaren Augen – stellte ihm nur eine Frage:
„Was wäre, wenn dein Erfolg nicht das Ziel, sondern ein Symptom ist?“
David schwieg lange. Dann lachte er verlegen: „Ein angenehmes Symptom, immerhin.“
Sie lächelte sanft: „Und doch spürst du, dass da noch etwas anderes ruft. Wollen wir hinhören?“
Er nickte.
3. Der Raum unter der Oberfläche
Die Hypnose begann nicht mit einem Pendel, nicht mit dem berühmten „Sie werden müde“. Es war ein langsames, respektvolles Sinken. Ein innerer Rückzug aus der Welt der Begriffe, hinein in eine Sphäre des Spürens. Worte verloren ihre Eile. Gedanken wurden langsamer, als würden sie im Nebel waten.
Er fand sich in einem inneren Raum wieder, weit und still, von feinem Licht durchzogen. Und da war eine Tür. Dahinter: ein Junge. Acht Jahre alt, in einem blauen Pullover. Er saß auf einer Schaukel, allein, aber nicht traurig. Nachdenklich.
„Kennst du ihn?“ fragte die Stimme der Coachin.
„Das bin ich“, flüsterte David.
„Was glaubt er über dich?“
David wollte sofort antworten, doch in diesem Raum war keine Antwort schnell. Sie kam wie eine Welle, tief aus dem Meer seiner Erinnerung:
„Er glaubt, ich habe ihn vergessen.“
4. Der Spiegel der Tiefe
In den kommenden Wochen kehrte David immer wieder in diesen inneren Raum zurück. Die Sitzungen waren mal ruhig, mal aufwühlend. Mal fühlte er sich klar wie Bergquellwasser, mal taumelte er durch alte Schatten. Immer wieder begegnete er inneren Figuren: einem verbitterten Lehrer, der Erfolg mit Disziplin gleichsetzte; einer Mutter, die still litt, um nicht zur Last zu fallen; einem älteren David, der allein auf einem Berg saß und auf das Tal hinab blickte – nicht stolz, sondern fragend.
Im Außen veränderte sich nichts – und doch alles. Seine Meetings wurden kürzer, präziser. Seine Sprache ruhiger, weniger bemüht. Seine Mitarbeiter spürten es zuerst: Der Druck wich einer neuen Art von Präsenz. Er hörte anders zu. Stellte andere Fragen. Ließ auch Stille zu – jene radikale Art von Stille, die nicht leer ist, sondern schwanger mit Bedeutung.
„Du führst nicht mehr mit deinem Kopf allein“, sagte seine Assistentin eines Tages. „Sondern mit etwas … tieferem.“
David wusste nicht, was sie meinte. Und doch wusste er es ganz genau.
5. Die Metamorphose des Erfolgs
In einer Trance-Reise sah David ein Bild: Er ging über eine Brücke, die auf der einen Seite aus Stahl bestand – kalt, strukturiert, mathematisch. Auf der anderen Seite war sie aus Holz, lebendig, unperfekt, warm. In der Mitte begann die Brücke zu schwingen. Dort zögerte er.
„Was hält dich zurück?“ fragte die Stimme.
„Wenn ich rübergehe … verliere ich die Kontrolle.“
„Und was gewinnst du?“
Lange Pause. Dann:
„Verbindung.“
Diese Brücke war mehr als eine Metapher. Sie wurde zum inneren Symbol seines neuen Selbstverständnisses. Erfolg war nicht mehr nur das, was er tat, sondern das, was in ihm zum Klingen kam, wenn das Außen mit dem Innen in Einklang trat. Nicht Zielerreichung, sondern Resonanz. Nicht Selbstoptimierung, sondern Selbstbegegnung.
Hypnose und Coaching waren für ihn keine Techniken mehr. Sie wurden zu Spiegeln, in denen er sich selbst erkennen konnte – nicht als Funktion, sondern als Mensch.
6. Der Mensch hinter der Rolle
Immer öfter sprach David nun öffentlich über Themen wie Intuition, Stille und die Bedeutung des Nichtwissens. Nicht belehrend, sondern erforschend. Er hielt Vorträge, in denen er Pausen machte, damit die Zuhörer spüren konnten, was zwischen den Worten lag. Seine Firma florierte weiter – nicht trotz, sondern wegen seiner Wandlung. Denn die Kultur hatte sich verändert. Von Druck zu Präsenz. Von Kontrolle zu Vertrauen.
Eines Tages fragte ihn ein junger Gründer auf einer Konferenz: „Was war der Wendepunkt in Ihrer Karriere?“
David überlegte. Dann sagte er:
„Als ich begriffen habe, dass mein größter Erfolg darin liegt, mich nicht mehr verstecken zu müssen.“
„Verstecken? Vor wem?“
„Vor mir selbst.“
7. Epilog: Die Tür bleibt offen
David lebt heute nicht in einem Kloster. Er leitet weiterhin sein Unternehmen. Er fährt Elektroautos, plant Strategien, verhandelt Verträge. Aber unter all dem hat sich etwas verschoben.
Er beginnt seine Tage mit zehn Minuten Stille – nicht als Ritual, sondern als Rückkehr. Und manchmal, wenn die Welt zu laut wird, erinnert er sich an den Jungen auf der Schaukel. Er setzt sich zu ihm. Sie schaukeln gemeinsam, ohne Worte.
Denn wahre Führung, das weiß David jetzt, beginnt nicht mit Antworten, sondern mit dem Mut zur Frage.
Und manchmal … mit dem Mut zur Stille.
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